Postkoloniale Perspektiven auf Mensch-Tier-Verhältnisse
(Un)Sichtbare Tiere und die Kolonialität der Stadt
von Annika Harzmann

Versiegelt, betoniert und ausgegrenzt – beste Grundbedingungen finden die meisten Tiere[1] in der Stadt wahrlich nicht vor. Dennoch bieten die Innenstädte des globalen Nordens einer Vielzahl nichtmenschlicher Lebewesen ein Zuhause. Dennoch sind Tiere Teil eines gemeinsamen gesellschaftlichen Zusammenlebens und beeinflussen dieses. Und dennoch haben sie dabei die Stadt(geschichte) auf vielfache Weise geprägt – insbesondere im kolonialen Kontext. In diesem Text möchte ich mich auf die Spuren dieser verstrickten Geschichten begeben.
Wir/die Anderen, Kultur/Natur, Metropole/Provinz, Jetzt/Geschichte – worauf wir in dieser Beitragsreihe immer wieder stoßen werden, ist die erschreckende Wirkmächtigkeit und Kolonialität dieser Dichotomien. Im städtischen Raum wird dies ganz besonders deutlich: Die Stadt – so die Autorin Andrea Meza Torres mit Bezug auf einen Vortrag RamónGrosfoguels – lasse sich als „microcosm of an empire“ beschreiben. Die großen Städte des Globalen Nordens bilden für Torres gegenwärtige Manifestationen kolonialer Strukturen der ehemaligen Kolonialreiche – in Miniatur.[2] Eine dieser Grundfesten modernen/kolonialen Denkens ist die Trennung von Mensch/Tier, Kultur/Natur, die wohl nirgends so sinnbildlich wie in den städtischen Zentren zu Tage tritt. Versiegelt, asphaltiert und ausgegrenzt – vielen Tieren und Pflanzen bietet die City wirklich keinen guten Nährboden.
Wir/die Anderen, Metropole/Provinz, Kultur/Natur, Mensch/Tier – diese Kategorisierungen leben in den Städten fort. Torres beschreibt dabei insbesondere am Beispiel der Einkaufspassagen und Schaufenster in den Metropolen aus einem historischen Blickwinkel die Rolle des Zur-Schau-Stellens und des Inszenierens von allem, was als anders wahrgenommen wurde (und wird):
Quelle: Torres, A. M. (2017: 140).
„In den Zeiten der Passage wurden »exotische« Waren und Objekte sowie Kulturen und Menschen (in diesem Fall fand das Zuschaustellen in sogenannten »human zoos« statt) durch allgemeine Ausstellungen im begrenzten Raum des Schaufensters, der Vitrine, gezeigt und wurden demzufolge als entfernt wahrgenommen.“[3]
Zoos sind auch heute noch ein gutes Beispiel für dieses Zur-Schau-Stellen. In ihnen leben die Dichotomien moderner/kolonialer Denkmuster fort: Kultur/Natur, Mensch/Tier. Räumlich getrennt vom geschäftigen, kulturellen Treiben schmücken Zoologische Gärten das Antlitz zahlreicher Großstädte. Marianna Szczygielska, deren wissenschaftliche Arbeit feministische Perspektiven und Queer Theory sowie Ansätze der Human-Animal-Studies zusammenführt, hebt die Bedeutung tierlichen Lebens für das „koloniale Projekt“ am Beispiel von Elefanten hervor: Die beeindruckenden Tiere wurden zu Projektionsflächen kolonialer Sehnsüchte, ihre Körper zu Trophäen und in ihrer Gefangenschaft, insbesondere in Zoos, zeigten sich symbolisch imperiale Machtansprüche.[4]
Erprobt wurde das Prinzip der Trennung zwischen Mensch/Tier, Kultur/Natur bereits in den Kolonien: Wie der Historiker Bernhard Gissibl am Beispiel des deutschen Kolonialismus in der ehemaligen Kolonie Ostafrika darlegt, drangen die Kolonisator:innen auf eine fundamentale Reorganisation der Mensch-Tier-Beziehungen, die sich besonders in der Herausbildung von Wildreservaten abzeichnete.[5] Statt einer dynamischen Koexistenz zwischen Menschen und nicht-domestizierten Tieren sei damit unter deutscher Kolonialherrschaft „die Grundlage jener strikten Trennung von Mensch und Tier, Kultur und Natur geschaffen [worden]“[6], so Gissibl. Mit dieser Aussiedelung von „Natur“ in die Reservate ging jedoch auch ein folgenreicher Umkehrschluss einher: „Nur dort fand Natur statt und war schützenswert, außerhalb geriet sie zur beliebigen Verfügungsmasse“[7].
Und dies hatte fatale Folgen: Viele Tierarten wurden im Zuge des Kolonialismus stark dezimiert und teils sogar völlig ausgelöscht: Bereits der Dodo – ein besonders bekannter Vertreter ausgestorbener Spezies, den wir schon im letzten Beitrag kennenlernen konnten – fiel der Ausbreitung von Europäer:innen zum Opfer. Die circa einen Meter großen, flugunfähigen Vögel lebten etwa bis zum Ende des 17. Jahrhunderts auf der Insel Mauritius im Indischen Ozean.[8] Zur Zeit des Aussterbens des Dodos galt Mauritius als niederländischer Besitz und war in fester, eiserner Hand der niederländischen Ostindien-Kompanie. Vielleicht waren es auf den Schiffen mitgeführte Ratten, die den Dodo an den Rand seiner Existenz trieben. Vielleicht auch intensive Bejagung, wie der Historiker Frank Uekötter mutmaßt. Was ihn letztlich vom Antlitz dieser Erde tilgte, lasse sich ihm zufolge heute nicht mehr sagen. Der Dodo starb noch vor 1800 aus – ebenso wie mindestens 48 weitere endemische Arten auf der Inselgruppe der Maskarenen seit der Kolonialisierung.[9]
Über den Globus verteilt wüteten die Kolonisator:innen erbarmungslos. Die kolonialisierten Regionen „zahlten […] mit Genoziden und Ökosystemkollaps“[10] für den materiellen Reichtum Europas, wie Imeh Ituen und Rebecca Abena Kennedy-Asante vom Klimaschutzkollektiv BIPoC Environmental and Climate Justice Berlin deutlich machen. Raubbau an Ressourcen, Entwaldung und Umweltverschmutzungen gingen mit der europäischen Expansion Hand in Hand.[11]
Diese „verwobene […] Geschichte von Kolonialismus, Kapitalismus und Industrialisierung“[12] prägt bis heute unser Stadtbild: In die Höhe gebaut und in Stein gehauen erinnern prachtvolle Gebäude und Straßen an den Reichtum vergangener Tage – einen Reichtum, der zuweilen auf der Ausbeutung tierlichen Lebens (nicht nur metaphorisch gesprochen) aufbaut. Der transnationale Warenhandel, der dies ermöglichte, umfasste etwa den (Ver-)Kauf tierlicher Körperteile wie Elfenbein, aber auch den lebender Tierkörper – insbesondere zu Ausstellungszwecken in Zoos, wie Marianna Szczygielska beschreibt.[13] Auch in Augsburg finden sich Spuren dieser Verstrickungen. Wer sich etwa in den großen Festsaal des Schaezlerpalais begibt und den Blick der Decke zuwendet, bekommt einen Eindruck davon, welche Anziehung und Gier die Fauna der kolonialisierten Gebiete in den Europäer:innen entfachte: Das Deckengemälde kündet von der Handelsmacht Europas und preist dabei symbolisch durch die Abbildung von Elfenbein und einem Vogelstrauß die „Schätze“ des Kontinents Afrika.[14] Auch die Wände des Saals werden durch zahlreiche Tierabbildungen geschmückt.
All dies bleibt jedoch weitestgehend unerwähnt. Für die städtische Geschichtsschreibung scheinen Tiere jedenfalls keine Rolle zu spielen – für die Stadtkassen dafür umso mehr. Mit dem 2020 neu eröffneten Elefantenhaus des Augsburger Zoos etwa – einem echten Prestigeprojekt – ist auch heute noch die Hoffnung verbunden, durch die großen, beeindruckenden Tiere mehr Besucher:innen anzulocken.[15]
Tiere werden – ganz besonders im globalen Norden – bis zum Äußersten ausgebeutet. Nicht nur früher, nicht nur im Exzess des Kolonialismus. Mit den heutigen technisch-strukturellen Möglichkeiten in der Landwirtschaft hat die Ausbeutung ein anderes – blutiges, verzerrtes – Gesicht angenommen. Tiere sterben. Ihr Sterben durch menschlichen Einfluss ist so allgegenwärtig, so banal und so grausam zugleich, dass es einem „alltägliche[n] Hintergrundrauschen“[16] gleicht.
Und was passiert in der Stadt? Was ist mit dem Tierlichen in unseren Städten? Auch hier erfahren Tiere wohl kaum Gerechtigkeit. Weder in der Erinnerung noch in unserer Gegenwart. Dies bleibt jedoch verdeckt, unausgesprochen. Indem die moderne/koloniale Denkweise eine Trennung von Mensch/Tier, Kultur/Natur suggeriert, werden diese Geschichten unsichtbar gemacht. Wie können wir über Dekolonialisierung sprechen, wenn den Orten, an denen wir leben, koloniale Denkmuster in ihren Grundstrukturen, in Stein, Beton und Asphalt eingeschrieben scheinen?
Wir/die Anderen, Metropole/Provinz, Kultur/Natur, Mensch/Tier – was am Ende dieses Textes bleibt, ist die Frage nach dem Dazwischen: ein Darüber-hinaus-Gehen, ein Überschreiten kolonialer Dichotomien und Kategorien und das Entstehen eines Möglichkeitsraums. Platz für ein Dazwischen und ein Darüber-hinaus.
[1] Die kursive Schreibweise des Begriffs der Tiere dient dem Zwecke, auf die machtvolle Subsumierung unterschiedlichster Lebensformen unter diese Sammelbezeichnung aufmerksam zu machen. Es geht mir dabei darum, die Selbstverständlichkeiten zu irritieren, derer wir uns beim Nachdenken und Sprechen über nichtmenschliche Lebensformen versichern.
[2] Vgl. Torres, A. M. (2017): Dekolonisation des kollektiven Gedächtnisses in den Museen der Stadt. In: Zwischenraum Kollektiv (Hrsg.): Decolonize the City! Zur Kolonialität der Stadt – Gespräche, Aushandlungen, Perspektiven. Münster: Unrast, S. 136-155, hier S. 137ff.
[3] Ebd.: 140.
[4] Vgl. Szczygielska, M. (2020): Elephant empire: zoos and colonial encounters in Eastern Europe. In: Cultural Studies. Vol. 34, No. 5, S. 789-810, hier S. 790.
[5] Vgl. Gissibl, B. (2010): Das kolonialisierte Tier: Zur Ökologie der Kontaktzonen des deutschen Kolonialismus. In: Werkstatt Geschichte. Heft 56, S. 7-28, hier S. 26.
[6] Ebd.
[7] Ebd.
[8] Vgl. Uekötter, F. (2020): Von großen Zahlen, stillem Sterben und der Sprachlosigkeit der Menschheit. Eine kleine Geschichte des Artenschutzes. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Natur- und Artenschutz. 11/2020, S. 11-19, hier S. 14.
[9] Vgl. ebd.: 13f.
[10] Ituen, I./Kennedy-Asante, R. A. (2019): 500 Jahre Umweltrassismus. In: taz. URL: https://taz.de/Kolonialismus-und-Klimakrise/!5638661/ [letzter Aufruf: 20.10.2021].
[11] Vgl. ebd.
[12] Ebd.
[13] Vgl. Szczygielska 2020.
[14] Vgl. dazu auch: Geschichtswerkstatt Augsburg e.V./Werkstatt Solidarische Welt e.V. (1994): Augsburger Kolonialgeschichten – Ein Stadtrundgang. Broschüre.
[15] Vgl. Fuchs, F. (2020): Targa zieht um. URL: https://www.sueddeutsche.de/bayern/augsburg-zoo-elefantenhaus-eroeffnung-1.4783027 [letzter Aufruf: 19.02.2022].
[16] Thöne, Y. S./Milling, S./Müllner, I. u.a. (2016): Opfer – Beute – Hauptgericht. Tiertötungen im interdisziplinären Diskurs. In: Joachimides, A./Milling, I./Thöne, Y. S. (Hrsg.): Ders. Bielefeld: transcript, S. 11-22, hier S. 11.