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Mensch. Tier. Macht. 

Postkoloniale Perspektiven auf Mensch-Tier-Verhältnisse

„Wir werden sie jagen!“
– Über invasive Tierarten, Rassismus und koloniale Kontinuitäten

von Annika Harzmann

Bild: Stefan Rieger

Fremd, anders, unerwünscht – sogenannte „invasive Arten“ sorgen immer wieder für hitzige Diskussionen. Im Folgenden möchte ich aufzeigen, weshalb im Konzept der „Invasivität“ rassistische und koloniale Narrative fortleben. Ist der Nandu in Gefahr? Was haben Invasionsbiologie und Kolonialrhetorik gemeinsam? Und warum macht es die Klimakrise notwendig, über tierliche Migration zu sprechen?

Sie werden bis zu 1,40 Meter groß, erreichen geradezu athletische Laufgeschwindigkeiten von 60 km/h und sind – trotz stattlicher Flügel – flugunfähig. Die Nandus, große Laufvögel mit langen Hälsen und kräftigen Beinen, werden meist in Südamerika verortet. Innerhalb der letzten zwanzig Jahre konnte sich auch in Norddeutschland eine Population der Vögel etablieren. Zwischen 1999 und 2001 aus einem privaten Gehege in Schleswig-Holstein entkommen, haben sich einige der Tiere im Biosphärenreservat Schaalsee im Landkreis Nordwestmecklenburg ein neues Zuhause gesucht und dabei eine Menge Unmut auf sich gezogen. Denn die Nandus gelten als „gebietsfremde Art“.[1] 

Das Bundesamt für Naturschutz versteht unter diesen sogenannten Neobiota Tier- oder Pflanzenarten, „die von Natur aus nicht in Deutschland vorkommen, sondern erst durch den Einfluss des Menschen zu uns gekommen sind“[2]. Als „invasiv“ bzw. „potenziell invasiv“ werden Arten dann bezeichnet, wenn sie „unerwünschte Auswirkungen“ haben bzw. diese möglicherweise haben könnten, z.B. in Hinblick auf andere Arten, Lebensgemeinschaften und Biotope. Auch ökomische und gesundheitliche Aspekte fließen in diese Bewertung mit ein.[3] 2015 wurde der Nandu aus Sorge vor „negativen ökonomischen Auswirkungen“ für die Landwirtschaft auf die Beobachtungsliste „potenziell invasiver Arten“ gesetzt.[4] Landwirt:innen klagten über die Plünderung von Feldern. Raps scheint den flinken Vögeln besser zu schmecken, als es ihnen in Deutschland guttut: Seit letztem Jahr dürfen sie mit offizieller Genehmigung der Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern gejagt und getötet werden.[5]

Die Autorin Karolin Machtans hat die Debatten um den rechtlichen Status der norddeutschen Laufvögel näher beleuchtet und dabei erstaunliche Parallelen zu rassistischer und rechtspopulistischer Rhetorik nachgewiesen:

„In der Betonung der Andersartigkeit, Nicht-Integrierbarkeit und Invasivität der Nandus weisen die medialen Diskurse in Deutschland frappierende Ähnlichkeiten zu denen auf, die menschliche Immigrant*innen betreffen. Die Bezeichnungen der Laufvögel, die als biblische ‚Plage‘ in die Schaalsee-Region eingefallen seien, reichen von ‚Latino- Geflügel‘, ‚ungebetene Erntehelfer‘ über ‚gefiederte Immigranten‘ bis hin zu ‚Laufvogel mit Migrationshintergrund‘ und ‚Neubürger‘.“[6]

Quelle: Machtans, K. (2021: 69).

Fremd, schädlich und eine Bedrohung für „heimische Arten“ – während der Nandu weiterhin gerne die „Südamerika-Gehege“ deutscher Zoos schmücken darf, scheint seine Etablierung in den Naturlandschaften Deutschlands bei vielen Menschen unerwünscht, wie Machtans eindrücklich vor Augen führt.[7] Auch die Fachstelle für Radikalisierungsprävention und Engagement im Naturschutz (FARN) sieht in den Debatten um „invasive Arten“ die Gefahr einer ökologisch kaum zu rechtfertigenden Hierarchisierung „heimischer“ gegenüber „gebietsfremder“ Arten.[8] Hier biete sich ein Einfallstor für rechtsextremes Gedankengut, das rassistische Narrative von „dem ‚invasiven Einwanderer‘ und den ‚Fremdlingen‘, die für das Aussterben der ‚Deutschen‘ sorgen würden“[9], schüre. Maßnahmen dagegen? „Ausrottung und Bekämpfung der Plagen“[10]. Rechtsradikale und die Jagd auf „gebietsfremde“ Arten – vor diesem Hintergrund erscheint die Parole „Wir werden sie jagen!“ solch unsympathischer Zeitgenossen wie Alexander Gauland in einem ganz anderen Licht. Unter dem Label des Naturschutzes könnten so „menschenverachtende Vorstellungen von ‚Blut und Boden‘, der natürlichen Verbindung von Menschen und Arten an bestimmte Regionen“[11] verbreitet werden. Die Grundlage für eine solche Auslegung liefert, wie FARN hervorhebt, aber bereits das Fachvokabular im Naturschutz.[12] Denn es sind auch die Sprachbilder und Konzepte fachlicher Debatten, die Anschlussfähigkeit für rassistische Argumentationen gewährleisten. Kaum verwunderlich, stammen wesentliche Wissensbestandteile der Ökologie und Naturschutzbiologie doch mitunter aus kolonialen Kontexten.[13] Bei der Invasionsbiologie, die sich mit der Verbreitung „gebietsfremder Arten“ beschäftigt, tritt dies ganz besonders zutage. Im Folgenden möchte ich exemplarisch darlegen, inwieweit invasionsbiologische Grundannahmen kolonial geprägt sind und im Konzept der Neobiota Kolonialität fortwirkt. Dabei werde ich mich auf eine Auseinandersetzung damit beschränken, wann eine Art als „neu“ gilt und welche Implikationen damit einhergehen. An dieser Stelle sei jedoch darauf verwiesen, dass im Einsatz gegen „gebietsfremde“ und „invasive“ Spezies koloniale Denkmuster auch anderweitig reproduziert werden – nicht zuletzt dadurch, dass dabei menschliche Einflüsse als unnatürlich gelten und damit die Trennung von Menschen und Natur besiegelt wird.

1492 – Beginn der Invasion?

Ist von „gebietsfremden Arten“ als Neobiota die Rede, werden damit Tier- und Pflanzenarten angesprochen, die sich ab dem Jahr 1492 in ihnen neuen Gebieten ansiedeln konnten. Diejenigen Spezies, welche bereits vor dieser Zeit außerhalb ihrer „angestammten“ Orte Fuß fassen konnten, werden dagegen als Archäobiota bezeichnet. „Invasivität“ als Bewertungskategorie wird nur auf ersterer Gruppe angehörende Spezies angewendet.[14] Die europäische Kolonisation der Amerikas scheint in diesen Konzepten also eine wesentliche Wende zu markieren. So ist auf der Informationsseite zu Neobiota des Bundesamtes für Naturschutz etwa zu lesen:

„Der menschliche Handel und Verkehr spielen für die Einführung von Neobiota eine so wichtige Rolle, dass das Jahr 1492 (Entdeckung Amerikas und der sich mit ihr extrem verstärkende transkontinentale Handel) als „Stichtag“ für die Einführung von Neobiota bzw. Neozoen („Neu-Tiere“) und Neophyten („Neu-Pflanzen“) festgelegt wurde.“[15]

Quelle: Bundesamt für naturschutz

Neue Handelsrouten und Formen der Mobilität hätten nach dieser Erzählung auch zahlreiche Tierarten eingeladen, das nächste Frachtschiff zu besteigen und „zu neuen Ufern“ aufzubrechen. Bereits der Dodo – ein mittlerweile zur Ikone erhobener Vertreter ausgestorbener Spezies[16] – könnte womöglich auf Schiffen mitgeführten Ratten, also einer in diesem Kontext als „invasiv“ geltenden Art, zum Opfer gefallen sein, wie der Umwelthistoriker Frank Uekötter darlegt. Die circa einen Meter großen, flugunfähigen Vögel lebten etwa bis zum Ende des 17. Jahrhunderts auf der Insel Mauritius im Indischen Ozean. Wann genau der Dodo verschwand, lässt sich heute nicht eindeutig sagen – klar ist nur: Noch vor dem Anbruch des nächsten Jahrhunderts starb die Art aus. Als Inselbewohner:innen mit wenig tierlicher Feinden wären die flugunfähigen Vögel womöglich besonders empfindlich gegenüber sich neu etablierenden Spezies wie Ratten gewesen, so Uekötter.[17] Womöglich. Denn mit den Schiffen, welche die Nagetiere als Mitfahrgelegenheit nutzten, kamen auch Vertreter:innen einer anderen Gattung, welche die Geschichte von Mauritius nachdrücklich und fatal prägen sollte. Zur Zeit des Aussterbens des Dodos galt Mauritius als niederländischer Besitz und war in fester, erbitterter Hand der niederländische Ostindien-Kompanie. Vielleicht trieb auch schlichtweg die Bejagung durch hungrige niederländische Seefahrer:innen die wenig wehrhaften Tiere an den Rand ihrer Existenz, wie Uekötter mutmaßt. Was ihn letztlich vom Antlitz dieser Erde tilgte, ist nicht ganz klar. Der Dodo starb noch vor 1800 aus – ebenso wie mindestens 48 weitere endemische Arten auf der Inselgruppe der Maskarenen seit der Kolonialisierung.[18] Ob in Nordamerika, Südafrika oder den Polargebieten kam es im Zuge der europäischen Expansion zu einem „historisch beispiellose[n] Massaker“[19] an Großwild, beschreibt der Historiker Bernhard Gißibl. In Deutsch-Ostafrika etwa dezimierten deutsche Schießwütige – vom Jagd- und Elfenbeinfieber getrieben – insbesondere Elefantenherden erheblich und traumatisierten ganze Generationen von Tieren.[20] Auch die Einfuhr „gebietsfremder“ Spezies schien dem kolonialen Projekt dienlich gewesen zu sein: Australische Kamele – heute ein besonders berühmtes Beispiel der Etablierung „invasiver Arten“ – wurden von Engländer:innen Mitte des 19. Jahrhunderts nach Australien gebracht, um ihnen die Erschließung des australischen Inlands zu erleichtern. Auf Anordnung der Regierung wurden die Kamele vor dem Hintergrund einer verheerenden Dürre und den damit einhergehenden katastrophalen Waldbränden im Jahr 2020 aus Angst, die Tiere könnten die Wasserversorgung in dieser kritischen Lage desstabilisieren, zu Tausenden getötet. [21] Dieses Beispiel macht deutlich, wie verheerend sich viele der ökologischen Eingriffe kolonialen Ursprungs noch heute auswirken. Über den Globus verteilt wüteten die Kolonisator:innen erbarmungslos gegenüber den tierlichen wie menschlichen Bewohner:innen. Die kolonialisierten Regionen „zahlten […] mit Genoziden und Ökosystemkollaps“[22] für den materiellen Reichtum Europas, wie Imeh Ituen und Rebecca Abena Kennedy-Asante vom Klimaschutzkollektiv BIPoC Environmental and Climate Justice Berlin deutlich machen. Raubbau an Ressourcen, Entwaldung und Umweltverschmutzungen gingen mit der europäischen Expansion Hand in Hand.[23]In der „verwobenen Geschichte von Kolonialismus, Kapitalismus und Industrialisierung“[24] machen Ituen und Kennedy-Asante auch den „Ursprung der Klimakrise“[25] aus:

„Länder des Globalen Nordens sind für mehr als zwei Drittel der historischen Treibhausgasemissionen verantwortlich, Länder des Globalen Südens sind allerdings zwei bis drei Mal verletzlicher gegenüber Klimawandelfolgen. Bereits diese Zahlen sind Indiz dafür, dass die Klimakrise nicht von allen Menschen gleichermaßen verursacht wird. Nicht nur dass es vor allem Länder des Globalen Nordens sind, die für die historischen Treibhausgasemissionen verantwortlich sind und von ihnen profitiert haben – auch der Prozess, in dem diese Emissionen zustande kamen, ist von Gewalt gezeichnet.“[26]

Quelle: Ituen, I./Kennedy-Asante, R. A. (2019)

Diese 500-jährige Geschichte des Umweltrassismus, welcher die beiden Aktivist:innen nachspüren, ist längst nicht zu Ende erzählt. Weiterhin kämpfen – und sterben – zahlreiche Umweltaktivist:innen im globalen Süden für Landrechte und Umweltschutz: Die Unterdrückung Indigener Menschen und BIPoC auf der einen und die Ausbeutung und Vernichtung von Ökosystemen auf der anderen Seite hängen auch heute eng zusammen, kritisieren Ituen und Kennedy-Asante.[27]

Während also mit der europäischen Kolonialisierung durchaus enorme ökologische Veränderungen einhergingen, erscheint das Jahr 1492 als Wendepunkt in der Verbreitung „invasiver Arten“ auf den ersten Blick willkürlich. Wie der Ökologe Franz Rebele in kritischer Auseinandersetzung mit der Invasionsbiologie ausführt, besteht ein Hauptargument dieser Disziplin darin, dass es sich bei den neueren „von Menschen verursachten ‚biologischen Invasionen‘ um einen unterschiedlichen Prozess im Gegensatz zu früheren […] Ausbreitungsprozessen handele“[28]. Hierin offenbart sich ein zutiefst eurozentrischer Fehlschluss. Auch vor der gewaltvollen Aneignung Nordamerikas hatten Native Americans das Land aktiv gestaltet, Tier- und Pflanzenwelt verändert und auf ökologische Prozesse eingewirkt.[29] Was hier geschürt werde, so Rebele, sei ein „Mythos von der wilderness als einem Gebiet ohne Menschen, der ‚unberührten Natur’ vor der europäischen Kolonisation Amerikas“[30]. Am Beispiel der deutschen Machenschaften in Ostafrika zeigt Gißibl die verheerenden Folgen eines solchen „Wildnis“-Narrativs, das sich insbesondere aus der physischen und visuellen Präsenz von Großwild speiste: Elefanten, Zebras, Antilopen und anderen Vertreter:innen charismatischer Tierarten beeindruckten die deutschen Kolonisator:innen und fügten sich nicht in europäische Auffassungen einer von Menschen geprägter „Kulturlandschaft“ ein. Die Anwesenheit von (Groß-)Wild diente damit als Sinnbild ursprünglicher Natur und bedeute in der Praxis eine „mentale Kolonisierung afrikanischer Landschaften als vermeintlich menschenleere und ‚natürliche’ Wildnis“[31]. Menschen und Tiere beheimatende Gebiete seien so in einen „zeit- und geschichtslosen Urzustand“[32] versetzt worden und korrelierten mit Vorstellungen von Ursprünglichkeit und Rückständigkeit.[33]

Gleichzeitig schienen charismatische Tierarten wie Löwen und Elefanten in der Imagination der Kolonisator:innen untrennbar mit den vorgefundenen Landschaften verbunden. Eingesponnen in eine ideologische Raumsemantik wurden sie, so Gißibl, zu „Signifikanten des sie prägenden Lebensraums“[34] erhoben.  Gestützt wurde dies durch damalige wissenschaftliche Theorien über vermeintlich jeweils charakteristische Spezies für verschiedene Regionen der Erde wie die des britischen Evolutionsbiologen Alfred Russel Wallace.[35] Auch die Invasionsbiologie ist heute in ihrer Unterscheidung „einheimischer“ und „nichteinheimischer“ Arten von der Auffassung geprägt, jede Art sei „natürlicherweise“ an ein Areal gebunden und außerhalb davon „fremd“.[36] Auch außerhalb von wissenschaftlichen Debatten sind diese Bilder einer „ursprünglichen Natur“ und einer zugehörigen Tierwelt wirkungsvoll. So hat die Autorin Tanja Ebner die mediale Berichterstattung um „invasive“ Arten diskursanalytisch beleuchtet und festgestellt, wie der Begriff der „Heimat“ genutzt wird, um die Ausgrenzung „gebietsfremder“ Spezies zu legitimieren.[37] Interessant dabei ist insbesondere, dass die „tatsächlichen Lebensumstände der Tiere […] missachtet [werden], um an einem historischen und gleichzeitig fiktiven Bild von Natur festzuhalten – ein bestimmter Punkt in der Geschichte wird (re-)konstruiert und als ‚natürliche Norm‘ imaginiert“[38]. Fremd, anders, unerwünscht – gegen diejenigen Tierarten, welche aus dem Konzept „ursprünglicher Natur“ ausgeschlossen werden, wird vorgegangen – zuweilen mit aller Härte. Ein Beispiel, bei dem diese drastischen Folgen besonders zutage treten, ist das der „verwilderten“ Schweine auf der Insel Santa Cruz Island vor der Küste Kaliforniens, das vor etwa zwanzig Jahren (und seither) für Aufregung sorgte. Durch spanische Kolonisator:innen angesiedelt und später ausgewildert, galten die Tiere 150 Jahre später als Problem. Die Anwesenheit der Schweine auf der Insel hätte Steinadler angezogen, die wiederum nun eine gefährdete und nur auf Santa Cruz vorzufindende Fuchsart bedrohten, lautete die Argumentation des Nature Conservancy, einer US-amerikanischen Naturschutz-Organisation. Fortan begann die Jagd auf die Schweine.[39] Auch hier trat ein bestimmtes Bild einer schützenswerten „Wildnis“ zutage, das zwar auf der Präsenz „wilder“ Tiere aufbaute, in dem jedoch „verwilderte“ Schweine keinen Platz fanden, so der Autor Vasile Stanescu.[40] „Wildnis“ – das ist das Andere, ein – wie Gißibl bezogen auf die koloniale Deutung der afrikanischen Savanne feststellt – vollständig gegensätzlicher Ort „zur geordneten und wirtschaftlich genutzten Natur Europas“[41]. Stanescu, der im Bereich der Critical Animal Studies forscht, weist dabei noch auf einen weiteren Zusammenhang hin: „Natur“ ist im Kapitalismus auch eine Ware, die es zu vermarkten gilt.[42] Bei der Bekämpfung „invasiver Arten“ unter dem Label des Naturschutzes geht es daher zuweilen auch um „die Generierung einer Natur als käufliches und verkäufliches Produkt“[43]. Zur Tötung der Schweine und deren Rechtfertigung im Sinne des Umweltschutzes führt er vor diesem Hintergrund aus:

„Es scheint stattdessen, dass die eigentlichen Motivationen ästhetischer Natur waren – die Tiere zu entfernen, weil sie den Besuchern als unnatürlich […] erscheinen würden. Das heißt, die ‚Natur‘ repräsentiert, immerhin in diesem spezifischen Falle, weniger eine Frage stabiler Ökosysteme, als einen edenhaften Mythos einer ‚unberührten‘ und ‚unverdorbenen‘ Wildnis. Die sichtbare Annäherung an diesen romantischen Mythos wurde erreicht durch eine chemisch induzierte Brunst, GPS-Ortung und Maschinengewehre.“

Quelle: Stanescu, V. (2014: 8).

All diese Beispiele sollten vor allem eines zeigen: Wissenschaft ist nicht neutral. Als Wissenschaftler:innen und Autor:innen forschen wir von einem bestimmten geo- und körperpolitischen wie soziostrukturellen Standpunkt aus. Der puertoricanische Soziologe Ramón Grosfoguel spricht dabei vom „locus of enunciation“[44]. Dass wissenschaftliche Texte inhaltlich unberührt vom Ort und der Person ihrer Produktion entstünden, ist eine Vorstellung, die wir auch im Rahmen dieses Blog-Projekts als Fortschreibung kolonialer Wissensbestände entlarven wollen. Auch naturwissenschaftliche Disziplinen wie die Invasionsbiologie müssen sich einer kritischen Überprüfung ihrer eigenen Grundannahmen stellen. Indem Konzepte wie die der Neobiota oder „invasiver Arten“ auf der grundsätzlichen Verschiedenheit menschlicher Einflüsse auf Tier- und Pflanzenwelt vor und nach der Eroberung der Amerikas ab 1492 gründen und dabei Bilder einer „unberührten Wildnis“ wecken, führen sie eurozentrische und rassistische Narrative fort und reproduzieren Kolonialität. Den Beginn einer Invasion markiert das Jahr 1492 nebenbei bemerkt trotzdem – nur ging diese nicht von Tieren aus.

Jagd auf den Nandu

Wie ich in diesem Text deutlich machen wollte, sind Begriffe wie „invasiv“, „gebietsfremd“ oder „heimisch“ keine unbefangenen Kategorien: Sie sind an rassistische und koloniale Narrative geknüpft und tragen auf diese Weise ihren Teil zu einer Form des Naturschutzes bei, der bestehende Machtverhältnisse festigt. Sie in Frage zu stellen, um sie zu streiten und über sie hinaus zu denken, ist deshalb Anliegen dieses Textes. Dabei geht es um mehr als nur Theoretisieren. Denn gilt eine Art erstmal als „(potenziell) invasiv“, ist ihr Schutzstatus und damit letztlich auch ihr Leben in Gefahr, wie Karolin Machtans hervorhebt.[45] Mit der EU-Verordnung „über die Prävention und das Management der Einbringung und Ausbreitung invasiver gebietsfremder Arten“ sind die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union seit 2015 etwa dazu verpflichtet, Maßnahmen gegen die Verbreitung „invasiver“ Spezies zu ergreifen und diese – falls nötig – zu „beseitigen“.[46] Im Falle des Nandus hat die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern, nachdem Landwirt:innen über verwüstete Felder klagten, eine Sonder-Jagdgenehmigung erteilt. Seit 2020 sind die Laufvögel zum Abschuss freigegeben – und diesem Aufruf folgte die Jagd-Gemeinschaft offensichtlich nur allzu gerne. Hobby-Jäger:innen, selbsternannte „Artenschützer:innen“ und Schießwütige aus allen Ecken Deutschlands zogen also los, um dem Nandu den Garaus zu machen. Nur noch 157 Individuen wurden im Frühjahr 2021 gezählt, einige Monate zuvor waren es noch 247.[47] Bei all dem Getümmel mahnt ein Vertreter des Kreisjagdverbands Nordwestmecklenburg zu Bedacht: Schließlich wolle man die Art nicht ausrotten, nur die Stückzahl begrenzen.[48] Vielleicht werden hier altdeutsche Gefühle geweckt: Endlich wieder Großwildjagd! Zwischen Geschichten über Jagdtourismus und Trophäen-Sammeln schlägt der selbige Kreisjagdverbands-Angehörige bezeichnenderweise die Brücke zur großen „Safari“: „Das ist genauso, wie wenn Sie eine Afrika-Jagd machen. Einmal im Leben möchte jeder vielleicht einen Kudu schießen oder so. Ja, das ist das Seltene“[49], schwelgt er im NDR.

Wie können wir über tierliche Migration sprechen, ohne an koloniale und rassistische Motive anzudocken? Angesichts einer Vielzahl ökologischer Krisen scheint diese Frage an Bedeutung zu gewinnen. In seinem kürzlich erschienenen Buch Die Natur auf der Flucht beschreibt der Wissenschaftsjournalist Benjamin von Brackel eindrücklich, wie der Klimawandel zahlreiche Tier- und Pflanzenart dazu zwingt, in andere Klimazonen abzuwandern.[50] Diskussionen um „invasive“ Spezies kommt damit eine neue Dringlichkeit zu. Denn natürlich müssen wir über die Migration von Tieren sprechen. Und natürlich ist es problematisch, wenn durch die Etablierung neuer Arten die Lebensgrundlagen anderer Spezies gefährdet, Krankheiten übertragen oder Konflikte geschürt werden. Dafür braucht es Konzepte, die diese komplexen Zusammenhänge abbilden können und nicht in statischen und dazu rassistischen Vorstellungen von „Heimat“ und „Ursprünglichkeit“ verhaftet bleiben. Denn diese Welt ist nicht statisch – spätestens mit der Klimakrise wird klar: Die Natur ist in Bewegung. Wie werden wir mit diesen Herausforderungen umgehen?


[1] Vgl. Machtans, K. (2021): „Ich finde, sie gehören nicht in diese Landschaft – das sind so schleichende, komisch stapfende Tiere“. Rassistische Rhetorik, ‚Staatsbürgerschaft‘ und die Nandus von Nordwestmecklenburg. In: Ullrich, J./Middelhoff, F. (Hrsg.): Tierstudien. Tiere und Migration. 19/2021. Berlin: Neofelis Verlag, S. 67-77, hier S. 67f.

[2] Bundesamt für Naturschutz: Was sind Neobiota? Was sind invasive Arten? URL: https://neobiota.bfn.de/grundlagen/neobiota-und-invasive-arten.html [letzter Aufruf 20.10.2021].

[3] Vgl. ebd.

[4] Vgl. Nehring, S./Rabitsch, W./Kowarik, I. u.a. (Hrsg.) (2015): Naturschutzfachliche Invasivitätsbewertungen für in Deutschland wild lebende gebietsfremde Wirbeltiere. Bonn: Bundesamt für Naturschutz. URL: https://www.bfn.de/fileadmin/BfN/service/Dokumente/skripten/Skript409.pdf [letzter Aufruf: 20.10.2021], S. 84f.

[5] Vgl. Burghardt, P. (2021): Nandus unter Beschuss. In: Süddeutsche Zeitung. URL: https://www.sueddeutsche.de/politik/nandu-wolf-deutschland-1.5267749 [letzter Aufruf: 20.10.2021].

[6] Machtans, K. (2021): „Ich finde, sie gehören nicht in diese Landschaft – das sind so schleichende, komisch stapfende Tiere“. Rassistische Rhetorik, ‚Staatsbürgerschaft‘ und die Nandus von Nordwestmecklenburg. In: Ullrich, J./Middelhoff, F. (Hrsg.): Tierstudien. Tiere und Migration. 19/2021. Berlin: Neofelis Verlag, S. 67-77, hier S. 69.

[7] Vgl. ebd.: 73.

[8] Vgl. FARN (Hrsg.) (2019): Wenn Rechtsextreme von Naturschutz reden – Argumente und Mythen. Ein Leitfaden. URL: https://www.nf-farn.de/system/files/documents/farn_leitfaden_wenn_rechtsextreme_von_naturschutz_reden.pdf [letzter Aufruf: 22.09.2021], S. 15f.

[9] Ebd.: 15.

[10] Ebd.

[11] Ebd.: 16.

[12] Vgl. ebd.: 15f.

[13] Vgl. Gißibl, B. (2010): Das kolonialisierte Tier: Zur Ökologie der Kontaktzonen des deutschen Kolonialismus. In: Werkstatt Geschichte. Heft 56, S. 7-28, hier S. 27.

[14] Vgl. Bundesamt für Naturschutz.

[15] Ebd.

[16] Für eine Betrachtung der zweifelhaften Berühmtheit des Dodo vgl. Turvey, S. T./Cheke, A. S. (2008): Dead as a Dodo: the fortuitous rise to fame of an extinction icon. In: Historical Biology. Vol. 20, No. 2, S. 149–163.

[17] Vgl. Uekötter, F. (2020): Von großen Zahlen, stillem Sterben und der Sprachlosigkeit der Menschheit. Eine kleine Geschichte des Artenschutzes. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Natur- und Artenschutz. 11/2020, S. 11-19, hier S. 14.

[18] Vgl. ebd.: 13f.

[19] Gißibl 2010: 10.

[20] Vgl. ebd.: 22.

[21] Vgl. Baier, T. (2020): Tausende Kamele in Australien abgeschossen. In: Süddeutsche Zeitung. URL: https://www.sueddeutsche.de/wissen/australien-invasive-arten-kamele-1.4754648 [letzter Aufruf: 11.10.2021].

[22] Ituen, I./Kennedy-Asante, R. A. (2019): 500 Jahre Umweltrassismus. In: taz. URL: https://taz.de/Kolonialismus-und-Klimakrise/!5638661/ [letzter Aufruf: 20.10.2021].

[23] Vgl. ebd.

[24] Ebd.

[25] Ebd.

[26] Ebd.

[27] Vgl. ebd.

[28] Rebele, F. (2017): Thesen zur „Invasionsbiologie“ und ihrem Einfluss auf den Naturschutz. URL: https://www.researchgate.net/publication/314285543_Thesen_zur_Invasionsbiologie_und_ihrem_Einfluss_auf_den_Naturschutz [letzter Aufruf: 18.10.2021], S. 2.

[29] Vgl. ebd.: 3.

[30] Ebd.

[31] Gißibl 2010: 24.

[32] Ebd.: 25.

[33] Vgl. ebd.: 24f.

[34] Ebd.: 24.

[35] Vgl. ebd.

[36] Vgl. Rebele 2017: 6.

[37] Vgl. Ebner, T. (2021): ‚Invasive‘ Tiere und der ‚Heimat‘-Begriff. Eine diskursanalytische Annäherung. In: Ullrich, J./Middelhoff, F. (Hrsg.): Tierstudien. Tiere und Migration. 19/2021. Berlin: Neofelis Verlag, S. 78-87.

[38] Ebd.: 81f.

[39] Vgl. Stanescu, V. (2014): Das „Judas-Schwein“: Wie wir „invasive Spezies“ unter der Vorgabe des „Naturschutzes“ töten. In: Journal für kritische Tierstudien (deutschsprachige Edition). Jg. 1, Heft 1, S. 1-15, hier S. 3.

[40] Vgl. Ebd.

[41] Gißibl 2010: 24.

[42] Vgl. Stanescu 2014: 8f.

[43] Ebd.: 8.

[44] Grosfoguel, R. (2007): The Epistemic Decolonial Turn. In: Cultural Studies. Vol. 21: 2-3, S. 211-223, hier S. 213.

[45] Vgl. Machtans 2021: 75.

[46] Vgl. Verordnung (EU) Nr. 1143/2014 des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates vom 22. Oktober 2014 über die Prävention und das Management der Einbringung und Ausbreitung invasiver gebietsfremder Arten. URL: https://eur-lex.europa.eu/legal-cotent/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014R1143&from=EN [letzter Aufruf: 24.10.2021].

[47] Vgl. Burghardt 2021.

[48] Vgl. NDR (2021): Kontroverse Nandu-Jagd in MV. URL: https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Kontroverse-Nandu-Jagd-in-MV,nandujagd100.html [letzter Aufruf: 24.10.2021].

[49] Ebd.

[50] Vgl. von Brackel, B. (2021): Die Natur auf der Flucht. Warum sich unser Wald davonmacht und der Braunbär auf den Eisbär trifft – Wie der Klimawandel Pflanzen und Tiere vor sicher hertreibt. München: Heyne Verlag.

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