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Augsburger Friedensfest*21

# Fürsorge

Foto: privat

Familiengeschichten

Kinder, die nicht ihre sind. Eine Familie, zu der sie nie so richtig gehört. Ein Haushalt, für den sie sorgen muss. Dieser Text erzählt von einem Leben, das oft im Verborgenen stattfand. Er beschäftigt sich mit Familienstrukturen, mit dem Sorgen um und für andere und mit der Frage, wie Care-Arbeit in weibliche Biografien eingeht. Im Mittelpunkt steht eine Frau, die ich selbst nie kennengelernt habe, jedenfalls nicht bewusst. Ich muss noch sehr klein gewesen sein, als sie gestorben ist. Der Beitrag entstand aus Gesprächen und Erinnerungen. Vieles musste ich mir zusammentragen, darauf schließen, vermuten – oder gänzlich meinem Vorstellungsvermögen überlassen. Er ist kein Tatsachenbericht. Will er auch gar nicht sein. Er ist geprägt von all der Ungewissheit, dem Schweigen, dem stillen Übereinkommen. Vielleicht auch von Scham. Es ist eine persönliche Reflexion über einen Teil meines eigenen Aufwachsens, von dem ich bisher nichts wusste. Womöglich nichts wissen wollte. Eine Reise in die Vergangenheit.

Ich habe dafür in meinen Familienannalen geblättert, bin ganz tief hinabgestiegen, auf der Suche nach einem Namen, einem Leben, einer Geschichte – und auf leere Seiten gestoßen.

Natürlich habe ich keine Annalen über die Geschichte der Familie. Wenn ich sie hätte, wenn ich Eltern gehabt hätte, deren Stammbaum feinsäuberlich in dicken, in ledergebundenen Büchern stehen würden – so stelle ich mir das jedenfalls vor – hätte ich vermutlich ein anderes Leben geführt.  Wäre vielleicht in den Winterferien zum Skifahren unterwegs gewesen. Hätte nicht gleich den Kopf eingezogen, wenn Kommiliton*innen in den ersten Semestern wichtige Worte verwendeten, die ich noch nie zuvor gehört hatte. Aber sei es darum. Ich wollte euch, lieber Leser*innenschaft, nur dieses Bild vor Augen führen. Nur für den Effekt. Also, lasst euch kurz darauf ein. Dicke Wälzer, kunstvoll dargestellte Stammbäume, Kerzenschein, auf dem Tisch verteilt auch noch ein paar alte Fotos, schwarz-weiß. Hier, das war mein Urgroßvater mütterlicherseits und da, ja schaut genau hin, diese Frau hat er geheiratet, hier ist sie. Das hier waren ihre Kinder. Sehen sie nicht hübsch aus? Und auf der nächsten Seite – nichts. Da steht nichts mehr. Leer. Könnt ihr es euch vorstellen?

Was ist das überhaupt für ein Bild? Wo ist aller machtkritischer Anspruch hin? Eurozentrischer, patriarchaler, heteronormativer Bullshit. Scheiß auf die Annalen, scheiß auf das alles – Decolonize family structures – ey!

Dann stellt euch eben was anderes vor. Ist mir doch egal, welche Bilder ihr vor Augen habt. Aber die leeren Seiten, die Unsichtbarkeit, die bleiben. Die gehen nicht weg. Ich fange jetzt einfach an.

„Wer genau war diese Frau denn?“, frage ich meine Mutter. „Ich weiß überhaupt nichts über diese Person.“ Sie eigentlich auch nicht, meint sie. Nett sei die gewesen, immer freundlich, hat einem immer etwas zu essen gemacht, wenn man Hunger hatte. Und auch wenn man keinen hatte. Hat sich um alle gekümmert. Es wäre eigentlich nie wirklich darüber geredet worden, warum das so sei. Naja, eigentlich sei insgesamt wenig geredet worden. Jedenfalls über Vergangenes.

Meine Mutter spricht in ihr Handy, während ich auf der anderen Seite der Leitung meine Gedanken zu ordnen versuche. Wir haben uns zum Telefonieren verabredet. Ich hätte ein paar Fragen an sie, habe ich ihr angekündigt. Ich weiß nicht, warum ich genau jetzt danach frage. In den letzten Tagen habe ich mich mit dem Thema Care-Arbeit beschäftigt. Darüber nachgedacht, was es darüber zu sagen gäbe. Was schon gesagt wurde. Wollte etwas darüber schreiben, etwas Persönliches. Und da war sie plötzlich: diese Leerstelle in der Familiengeschichte. Es war mir immer etwas suspekt. Ich habe mich dabei seltsam gefühlt, wenn mir diese Augen auf den Familienfotos entgegenschauten. Und die Antworten meiner Verwandten trugen nicht dazu bei, mir dieses Gefühl zu nehmen. Eigentlich wusste ich nur drei Dinge von dieser Frau: Sie war eine Verwandte meiner Urgroßmutter. Sie hat in deren Haus gewohnt. Und sie machte den Haushalt.

Meine Urgroßmutter floh nach Ende des zweiten Weltkriegs aus dem heutigen Tschechien nach Bayern. Mit einem kleinen Kind, meinem Großvater, unehelich, der Vater den Anderen unbekannt – ein weiteres Thema, über das in der Familie nicht geredet werden sollte. Mit ihnen waren auch ihre Mutter und ein Onkel gekommen. Und eine Tante, um die es hier gehen soll.

Viel mitnehmen hätten sie nicht können. Sind mit leeren Händen angekommen. Aus ihrem Dorf waren sie vertrieben worden. Nun hieß es neu anfangen. Nur wie? Nach der Ankunft wurden sie auf einem kleinen landwirtschaftlichen Hof einquartiert und arbeiteten hart. Später lernte meine Urgroßmutter einen Mann kennen. Sie heirateten. In das neue Haus, auf das man so stolz war, das man selbst gebaut hatte, mit Schweiß und Tränen, wurden alle aufgenommen. Während beide Eheleute berufstätig waren, half die Tante im Haus. Zog ihren Sohn mit groß, putzte, kochte. Als das zweite Kind geboren wurde, hat man alle Unterstützung gebraucht. Und ja, sicher, auch auf die Enkelkinder könne die Gute aufpassen. Ist ja sowieso daheim. So hübsche Kinder, so brav. Die anderen müssen ja Geld nach Hause bringen. Da müssen eben alle mithelfen.

Und es halfen alle mit. Bis sie alt und faltig war, hielt diese, mir so fremde Frau meiner Urgroßmutter und ihrer Familie den Rücken frei. Dann zwei, drei Jahr Altersheim. Später Beisetzung im Familiengrab. Wenn sie ehrlich sein solle, meint meine Oma, habe sie das so empfunden: „Jetzt kann sie nicht mehr arbeiten, jetzt braucht man sie nicht mehr“.

So richtig dazu gehört habe die Greisin nicht. Zum Essen habe sie sich immer auf ihr Zimmer zurückziehen sollen, erinnert sich meine Mutter, die oft zu Besuch bei den Großeltern war. „Die haben sie ganz schön herumkommandiert.“ Ihr sei das falsch vorgekommen. Einmal habe man die alte Frau in den Keller geschickt, um Getränke zu holen. Meine Mutter schildert, wie sie selbst stattdessen aufgestanden sei. Als Kind habe sie ihren Freund*innen erzählt, die Frau wäre schon hundert Jahre alt. So alt sei sie ihr vorgekommen.

„Sie war halt einfach da. Mehr war da nicht.“ Als „guter Geist im Haus“ beschreibt meine Oma sie. Manchmal sei sie im Dorf spazieren gegangen. Meine Mutter kann sich hingegen nicht daran erinnern, dass sie das Grundstück überhaupt verlassen hätte. Von anderen Kontakten wissen beide nichts.

„Sie hat ihre Rente abgeben müssen und dafür ein Taschengeld bekommen.“

„Ein Taschengeld?“ Das macht mich wütend. Ich weiß nicht, wohin mit der Wut. Wie kann es sein, dass ich fünfundzwanzig Jahre alt werden musste, um mich aufrichtig dafür zu interessieren? Ich schlafe im gleichen Zimmer wie sie einst. Wo sie ihre Tage in einem kleinen Wohnraum verbrachte, ist heute mein Badzimmer.

Wütend sein allein reicht nicht. Dass die Frau nicht alleine hätte leben können, wird mir erzählt. Dass sie keinen Beruf erlernt durfte, noch nie außerhalb des Hauses gearbeitet hätte. Man nicht glaube, dass sie schreiben konnte. Sie nur wenig Rente bekommen habe. Was hätte sie sonst machen können? Ja, was sonst? Und die Kinder, die habe sie wirklich gerne gemocht. Hätte sich immer gefreut, wenn sie was zu tun hatte.

Ich versuche mir vorzustellen, was meiner Urgroßmutter durch den Kopf ging, wenn sie an ihre Tante dachte. Beide Frauen hatten nicht nur die Erfahrung der Vertreibung und Flucht geteilt, sondern auch die des Fremdseins – und die Erinnerung an die frühere Heimat. Und dennoch – man muss ja schauen, wo man bleibt. Wo soll sie sonst hin? Kann ja froh sein, dass sie hier wohnen kann. Hatten viel Glück. Jeder muss was leisten. So ist das. Anders geht es nicht. Von was sonst leben? War für uns auch nicht einfach. War nie einfach.

Die Sorge um und für andere zieht sich durch viele weibliche Biografien: Es wird Frühstück vorbereitet, Kinder gefüttert, kranke Menschen umsorgt, Familienangehörige gepflegt, andere getröstet, ihnen Mut zugesprochen, Wäsche gewaschen, Flure geschrubbt, gekocht, Kinder ins Bett gebracht und dann – dann beginnt am nächsten Tag alles von vorn. Unsere Gesellschaft baut auf diese – oft unbezahlten – Tätigkeiten. Ohne sie ginge nichts. Diese als Care-Arbeit bezeichneten Abläufe sind die Basis allen gesellschaftlichen Lebens und werden dabei gleichzeitig allzu oft übersehen oder nicht ausreichend honoriert.

Ein Großteil dieser Arbeiten wird von Frauen erledigt. Immer noch. Aus dem zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung von 2015 ging etwa hervor, dass Frauen in Deutschland täglich circa 52 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit aufwenden als Männer. Diese Differenz wird als Gender Care Gap bezeichnet. Befinden sich in einem Haushalt außerdem Kinder, ist diese Lücke besonders groß. Der zeitliche Mehraufwand liegt hier bei etwa 84 Prozent. Gerade berufstätige Mütter stehen daher oft vor der Frage, wie sie Erwerbsarbeit und Care-Verpflichtungen stemmen können. Für einige besteht die Antwort darin, Haus- und Familienarbeit an eine dritte Person weiterzugeben.

Und auch hier sind es wiederum Frauen, welche diese Aufgaben übernehmen. Meist unterbezahlt, meist unbeachtet, oft illegal. Und nicht nur in den Privathaushalten: Ob in Pflegeheimen oder Großraumbüros sind es oft geflüchtete Frauen oder Angehörige anderer marginalisierter Gruppen, die in Deutschland diejenigen Sorgetätigkeiten zu schlechtesten Bedingungen übernehmen, die sonst keiner machen will. Es gibt ein Wort dafür: Ausbeutung. „Je mieser die Arbeit bezahlt wird, je illegaler oder je niedriger der Status dieser Arbeit ist, desto häufiger findet man genau dort Frauen, die Nachnamen tragen, die der AfD ein Dorn im Auge sind“, so die Schauspielerin und Autorin Mateja Meded. Die Illegalität vieler Tätigkeiten im Care-Sektor, auf welche Arbeitgeber*innen und Firmen bauen, bietet hierfür einen perfekten Deckmantel. Soziolog*innen wie Ursula Apitzsch und Marianne Schmidbaur sprechen dabei aufbauend auf den Arbeiten der Berkeley-Professorin Arlie Russell Hochschild von der „Hinterbühne des globalen Marktes“, auf der Sorge-Dienstleistungen verkauft und gekauft werden – weitgehend ohne staatlichen Eingriff.

Die Frau, auf deren Spuren ich mich gemacht habe, war in vielerlei Weise privilegiert. Auch wenn die bayerischen Dorfgemeinschaften nicht freundlich auf die vielen Menschen reagierte, die ab 1944 durchs Land zogen – auf der Flucht vor dem näherkommenden Krieg, vor Armut und Hunger, vertrieben oder auf dem Heimweg nach der Verschleppung durch die Nazis – sie war eine weiße Frau, mit einem Familiennamen, der in der Nachbarschaft nicht weiter auffiel.

Es ist wichtig, darauf aufmerksam zu machen. Es ist wichtig, sich darüber bewusst zu sein, dass es einen Unterschied macht. Dass Marginalisierung wenig Türen offen lässt. Dass diese Gesellschaft Möglichkeiten eingrenzt, Zwänge und Abhängigkeiten schafft. Für jeden. Für manche jedoch stärker als für andere.

Die Erfahrung, von anderen abhängig zu sein, zieht sich auch durch die hier erzählte Geschichte. Denn sie ist eine, die viele Frauen nur allzu oft machen:

Auch meine Urgroßmutter wurde zu einer Entscheidung gedrängt: Verpflichtungen abgeben, anderen aufladen – oder etwas opfern. Eigene Wünsche vielleicht, Träume. Womöglich auch das eigene Überleben, satt werden, genug haben.

Sie wurde aufgenommen. Verliebte sich vielleicht. Heiratete den Mann. Sie bauten ein Haus, bekamen ein Kind, vergrößerten das Haus. Eine Festanstellung, das eigene Geld. Freitagabend Freunde zu Besuch, sonntags in die Kirche. Und dann noch der Frauenverein. Sie lebten gut. „Wir können froh sein, dass wir hier sind“, habe die Urgroßmutter manchmal gesagt.

Die Frau, um die es in diesem Text ging, konnte sich kein eigenes Leben aufbauen, nicht Fuß fassen. Das gute Ende, diese vermeintliche Erfolgsgeschichte, sie war nicht ihre.

Ich weiß nicht, ob sie glücklich damit war. Vielleicht war sie es. Vielleicht wollte sie es so. Womöglich sah sie aber auch schlicht keine andere Option für sich.

Care-Arbeit bleibt oft unsichtbar. Sie wird einfach gemacht. Jeden Tag, überall. Die Geschichte, die ich zu erzählen versucht habe, soll das Unsichtbare in den Blick rücken. Auf dass wir sie sehen. Auf dass wir darüber sprechen. Auf dass wir nachfragen.

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