Postkoloniale Perspektiven auf Mensch-Tier-Verhältnisse
Start unserer neuen Beitragsreihe!
von Annika Harzmann

Kann Tierschutz rassistisch sein? Was hat das Aussterben von Tieren mit imperialen Ansprüchen zu tun? Sind Naturschützer:innen Kolonialist:innen? Diesen Fragen möchten wir künftig gemeinsam mit euch einmal im Monat nachgehen. Ab September starten wir mit einer neuen Beitragsreihe zu Beziehungen zwischen Menschen und Tieren, zu Rassismus, Macht und Privilegien.
Liebe Leser:innen,
vielleicht fragt ihr euch, wie das zusammenpasst – Tiere und Postkolonialismus? Vielleicht seid ihr euch auch nicht sicher, ob ihr hier richtig seid. Mit Tieren, ihrem Wohl und ihren Rechten habt ihr euch noch nicht näher beschäftigt? Artenschutz und Biodiversitätsverlust sind nicht euer Fachgebiet? Dann habt ihr nun die Gelegenheit, eine neue Perspektive einzunehmen.
Diese Beitragsreihe versteht sich auch als Einladung, sich fächerübergreifend mit Mensch-Tier-Verhältnissen zu beschäftigen. Weil diese Fragen für jede:n von uns relevant sind. Weil hier Dinge verhandelt werden, die von Bedeutung sind – auch unter einem postkolonialen Blickwinkel. Deshalb ist es mir als Autorin und als Studentin im Studiengang Sozialwissenschaften ein Anliegen, mich mit den mannigfachen Interaktionen und Beziehungen zwischen Menschen und Tieren auseinanderzusetzen. In den kommenden Monaten soll es in unserer neuen Rubrik darum gehen, diese Verhältnisse unter einer postkolonialen Perspektive zu betrachten und dabei Fragen von Rassismus, Macht und Privilegien in den Mittelpunkt zu stellen. Mit diesem ersten Beitrag möchte ich euch einen Eindruck vermitteln, was euch dabei erwarten wird.
Zunächst – und dies ist eine persönliche wie auch naheliegende Antwort darauf, warum ich über Verhältnisse zu Tieren sprechen möchte – finde ich es schlichtweg falsch, dass eine Vielzahl von Tieren durch menschliches Handeln eingeschränkt oder ausgebeutet wird, ihnen grundlegende Bedürfnisse verwehrt bleiben, sie ihrer Freiheit beraubt werden, Schmerzen erleiden oder sterben. Denn das tun sie, jeden Tag. Das Sterben von Tieren (durch menschliche Einflüsse) ist ein „alltägliche[s] Hintergrundrauschen“ (Thöne et al. 2016: 11). Dafür braucht es nicht nur das Schreckensbeispiel der Massentierhaltung. Um das Sterben nichtmenschlicher Lebewesen zu beobachten, reicht auch ein Blick in unsere Wälder, Gewässer und Städte. Der Biodiversitätsverlust ist eine der größten Gefahren für das Leben auf der Erde. Er ist aufs Engste mit der Klimakrise verbunden, verstärkt sie und wird durch sie weiter angetrieben (vgl. Brasseur et al. 2014: 13).
Artenschutz bzw. der Erhalt der Biodiversität[1] wird damit auch für uns Menschen zur Überlebensfrage. Deutlich wird dies nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie. Denn je kleiner die Lebensräume von Tieren werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Krankheitserreger auf Menschen überspringen. Das Risiko von Infektionskrankheiten nimmt also zu – in erster Linie durch anthropogene Umweltveränderungen, wie der Weltbiodiversitätsrat IPBES 2020 in einem Bericht zu Pandemien bestätigte (vgl. IPBES 2020: 2). Auch überfüllte Ställe in der industriellen Nutztierhaltung sind echte Brutstätten für sogenannte Zoonosen (vgl. Chemnitz & Dewitz 2021). Wie wir als Menschen mit Tieren umgehen, hat also ebenso Auswirkungen auf unser eigenes Leben – global wie regional.
Wie hängt dies nun mit postkolonialen Debatten zusammen? Kehren wir beispielsweise zurück zur Biodiversität: Denn hier werden auch (globale) Ungleichheiten angesprochen. Weder Verantwortlichkeit noch Betroffenheit sind derzeit gleich verteilt. So kann die Biodiversitätskrise etwa als Folge der Ausbeutung von Mensch und Natur durch den globalen Norden begriffen werden – als Resultat einer imperialen Lebensweise, wie sie Ulrich Brand und Markus Wissen in ihrem gleichnamigen Buch herausarbeiten (vgl. Brand & Wissen 2017).
Die Autorin Trinda Storey fordert weiterhin, die Thematik auch unter der Perspektive von Umwelt(un)gerechtigkeit zu beleuchten: „The issue of biodiversity loss is often discussed when considering the conservation of species, it also needs to be discussed in terms of environmental injustice. The loss of biodiversity affects poor and indigenous communities by impinging on their rights to clean water, safe air, and means of livelihood, including land, and to live healthily” (Storey 2020). Biodiversitätserhalt ist eine Überlebensfrage, ja. Für die gesamte Menschheit? Ja, vielleicht. Für einige Gruppen von Menschen definitiv schon heute.
Wie also auf den Verlust der Biodiversität reagieren? Oft werden dafür Schutzregionen ausgewiesen. Problematisch dabei: Der Artenschutz in Schutzgebieten war und ist stets auch ein Weg, Dominanz auszuüben (vgl. Uekötter 2020: 15f.). Der kenianische Ökologe Mordecai Ogada spricht in einem Interview für das GEO Magazin gar von Naturschutz als neue Form des Kolonialismus (vgl. Gottschalk 2020). Der Arbeit von Naturschutzorganisationen in den Nationalparks Afrikas hafte auch heute noch ein rassistisches Narrativ an: eine „Geschichte von weißen Heilsbringern, die die Tierwelt in Afrika retten – und zwar vor den Afrikanern“ (ebd.). Diese Erzählung setzt sich auch in heutigen Debatten um Wilderei fort (vgl. ebd.).
Dass neben dem Artenschutz auch Tierschutz(-politik) nicht immer etwas mit dem Wunsch zu tun hat, nichtmenschliche Lebewesen vor Unheil zu bewahren, werde ich in meinem nächsten Beitrag zeigen. Pünktlich zur Bundestagswahl möchte ich dabei in Auseinandersetzung mit den Wahlprogrammen der Parteien deutlich machen, warum das Argument des „Tierwohls“ oft auch zur Durchsetzung einer rassistischen Agenda genutzt wird. Ich freue mich darauf, gemeinsam mit euch eine neue Perspektive auf Menschen, Tiere und Macht zu gewinnen!
[1]Biodiversität beschreibt die Vielfalt des Lebens auf der Erde. Neben der Vielfalt der Arten geht es um die Diversität der Gene, der Ökosysteme sowie der Wechselwirkungen zwischen Spezies und Ökosystemen (vgl. Brasseur et al. 2014: 12).
Brand, U./Wissen, M. (2017): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. München: Oekom Verlag.
Brasseur, G./Mosbrugger, V./Schaller, M. u.a. (2014): Einführung. In: Ebd. u.a. (Hrsg.): Klimawandel und Biodiversität. Folgen für Deutschland. 2., Auflage. Darmstadt: WGB, S. 12-22.
Chemnitz, C./Dewitz, I. (2021): Zoonosen: Tierproduktion, Pandemie und Gesundheit. URL: https://www.boell.de/de/2021/01/06/zoonosen-tierproduktion-pandemie-gesundheit [letzter Aufruf: 16.09.2021].
IPBES (2020) Workshop Report on Biodiversity and Pandemics of the Intergovernmental Platform on Biodiversity and Ecosystem Services. URL: https://ipbes.net/sites/default/files/2020-12/IPBES%20Workshop%20on%20Biodiversity%20and%20Pandemics%20Report_0.pdf [letzter Aufruf: 16.09.2021].
Gottschalk, G. (2020): Mordecai Ogada: „Naturschutz ist der neue Kolonialismus“. URL: https://www.geo.de/natur/oekologie/23131-rtkl-umweltschutz-afrika-naturschutz-ist-der-neue-kolonialismus [letzter Aufruf: 16.09.2021]
Storey, T. (2020): Biodiversity injustice. The interrelationship of biodiversity loss and environmental injustice. URL: https://storymaps.arcgis.com/stories/69bafe2cad3648acaaeb3244890d60fd [letzter Aufruf: 15.09.2021].
Thöne, Y. S./Milling, S./Müllner, I. u.a. (2016): Opfer – Beute – Hauptgericht. Tiertötungen im interdisziplinären Diskurs. In: Joachimides, A./Milling, I./Thöne, Y. S. (Hrsg.): Ders. Bielefeld: transcript, S. 11-22.
Uekötter, F. (2020): Von großen Zahlen, stillem Sterben und der Sprachlosigkeit der Menschheit. Eine kleine Geschichte des Artenschutzes. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Natur- und Artenschutz. 11/2020, S. 11-19.