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‚Gegenwartsbewältigung‘ – Abrechnung mit Nazi-Almanya

Rezension[1] von Merve Kanbur


Hallo liebe Lesende. Mein Name ist Merve Kanbur. Ich studiere Erziehungswissenschaft an der Universität Augsburg.
Ich bin schon lange auf der Suche nach einer passenden Möglichkeit aktiv zu werden und freue mich im Format der postcolonial realities dies nun zu verwirklichen. Seit einiger Zeit beschäftige ich mich schon mit dem Thema Rassismus und Diskriminierung, nicht zuletzt auch auf Grund eigener schmerzlicher Erfahrungen. Keineswegs möchte ich jedoch auf die Expertise der Erfahrung beschränkt werden, sondern durch Wissen und Ideen marginalisierte Personen sichtbar machen. Diese gilt es zu ermutigen laut und unbequem zu werden, und nicht mehr um einen Platz in der Gesellschaft zu betteln, sondern sich diesen zu nehmen.Es ist schon lange Zeit, sich seiner eigenen Narrative zu bemächtigen und Rassismen zu dekonstruieren. Dabei macht die rassistische Sozialisation auch vor mir als PoC keinen Halt und muss gleichermaßen durch kritische Selbstreflexion verlernt werden. Rassismus und Diskriminierung gehen uns als Gesellschaft so alle etwas an. Also go  educate yourself und tu deine menschliche Pflicht. 

Foto: privat


Gegenwartsbewältigung ist nach Max Czolleks erstem Buch Desintegriert euch! die zweite kritische Abrechnung mit Deutschlands Politik und ihren Diskursen/ Diskursverschiebungen. Schon der Titel ist ein bewusst gewähltes Wortspiel und verweist auf die Vergangenheit Deutschlands, die wohl doch noch nicht ganz passé ist.

Dabei nimmt Czollek immer wieder Bezug auf die Corona-Krise mit ihrer beschränkten Solidarität für bestimmte soziale Gruppen, was – neben anderen Aspekten – seinem Buch eine hohe Aktualität verleiht. Er beschreibt, wie schnell die Politik während der Pandemie fähig ist durchzugreifen, und erklärt ihre Passivität bezüglich Deutschlands Naziproblematik nicht durch ihr Unvermögen, sondern schlichtweg durch ihren Unwillen.

Durch kluge Vergleiche bringt er die Leser:innen immer wieder zum Lachen und zum Nachdenken. Czollek nimmt dabei kein Blatt vor den Mund und schreckt nicht davor zurück, durch gekonnte Ironie und Humor Almans (Achtung: reverse racism?!) an den Pranger zu stellen.

So etabliert er beispielsweise das heilige H-Wort der Deutschen, vermutlich als Analogie an das N-Wort, dessen Verwendung von Verfechtern des H-Wortes um jeden Preis verteidigt wird. Heimat als zentrales Werkzeug der Identitätskonstruktion.

Er hebt zusätzlich den sprachlichen Aspekt als gesellschaftspolitisches Instrumentarium hervor und wie dieser zur Reproduktion rassistischen Denkens beiträgt. Czollek arbeitet anschaulich anhand von Verweisen auf Literatur und Kunst heraus, inwiefern Deutschland seine Vergangenheit aufgearbeitet und eine neue unschuldige Identität konstruiert hat: Genug ist über die Vergangenheit gesinnt worden, nun hat der Deutsche reinen Herzens und reinen Gewissens ein Recht auf Heimat und Leitkultur. Die überwunden geglaubte Vergangenheit holt so die Gegenwart auf und bedroht sie im Sinne von rassistischem Denken und Unvermögen zur Selbstreflexion. Dem gegenüber stellt Czollek eine neue „wehrhafte Poesie“.

Weiter plädiert er in seinem Buch für radikale Vielfalt in der deutschen Gesellschaft als Gegensatz zur deutschen Leitkultur, für alle Menschen, die sich mit Nazi Almanya nicht identifizieren können.

Das Buch zwingt die Leser:innen, konzentriert mitzudenken, und führt diese in die bizarren Diskurse Deutschlands ein. Insofern ist es keine Lektüre für zwischendurch – zu wertvoll sind die Inhalte, um einfach überflogen zu werden. Um gewisse Passagen des Buches noch besser zu verstehen (wie etwa das Gedächtnistheater), lohnt es sich, vorher Desintegriert euch! zu lesen. Alles in allem ist Gegenwartsbewältigung ein sehr lesenswertes Buch, nicht zuletzt durch die sprachlich-künstlerischen Fähigkeiten, Wortspiele, geistreichen Metaphern und der klaren Positionierung Czolleks. So beschreibt er etwa das Erstarken der Rechten durch folgendes Bild:

„Stellen Sie sich […] ein rechtwinkliges Dreieck vor, an dessen Spitze die wankende bürgerliche Mitte steht. Die Seiten des Dreiecks sind zwar nach rechts und links gleich lang. Aber an der bürgerlichen entsteht immer, logisch – ein rechter Winkel.“

Czollek (2020): Gegenwartsbewältigung

Max Czollek (2020): Gegenwartsbewältigung. München: Hanser Verlag.


[1] Erstmals veröffentlicht unter: https://diefreiheitsliebe.de/kultur/gegenwartsbewaeltigung-eine-abrechnung-mit-nazi-almanya/

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